Grieche sucht Griechin   ::   Дюрренматт Фридрих

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«Tugend ist sichtbar«, fuhr Archilochos fort und reinigte seine randlose, verbogene Brille.»Sie leuchtet auf diesem Gesicht und leuchtet auf dem Gesicht meines Bischofs.»

Damit wandte er sich dem Bildnis zu, das über der Türe hing.

Der Bischof sei etwas sehr dick, protestierte Madame Bieler, der könne doch einfach nicht so tugendhaft sein.

Archilochos war in seinem Glauben nicht zu erschüttern.

«Seine Natur«, entgegnete er.»Wenn er nicht tugendhaft, philosophisch leben würde, wäre er noch dicker. Sehen Sie dagegen Fahrcks an. Wie unbeherrscht, wie unmäßig, wie hochmütig. Sündig in jeder Beziehung. Und eitel.»

Er wies mit dem Daumen über seine rechte Schulter nach dem Bild des berüchtigten Revolutionärs.

Madame Bieler blieb hartnäckig.»Eitel kann man doch nicht sagen«, stellte sie fest,»bei diesem Schnauz und bei diesen wilden Haaren. Und mit seinem sozialen Mitgefühl.»

Das sei nur eine besondere Art der Eitelkeit, behauptete Arnolph.

«Mir unverständlich, dass dieser Verführer hier hängt. Kam doch eben aus dem Gefängnis.»

«Oh, man kann nie wissen«, sagte dann jedesmal Madame Bieler und trank in einem Zug ein Glas Campari aus.»Man kann nie wissen. Auch in der Politik muss man vorsichtig sein.»

Der Bischof, um uns wieder seinem Bildnis zuzuwenden — jenes von Fahrcks hing an der gegenüberliegenden Wand —, dieser Bischof war Nummer Zwei in der abgestuften Welt des Herrn Archilochos. Es war kein katholischer Bischof, obgleich Madame Bieler in ihrer Art eine gute Katholikin war, die in die Kirche ging — wenn sie einmal ging —, inbrünstig zu weinen (doch ebenso inbrünstig weinte sie im Kino); es war aber auch kein protestantischer, Auguste Bieler (Gödu Bielers Gusti), aus der deutschen Schweiz eingewandert (Großaffoltern), der erste Gigant der Landstraße, den die Eidgenossenschaft hervorbrachte (>Sport< vom 9. 9. 29), konnte ja keinen Bischof kennen als Zwinglianer (auch dies zwar nur auf seine Art: er hatte keine Ahnung, dass er Zwinglianer war), sondern der Bischof war das Haupt der Altneupresbyteraner der vorletzten Christen, einer vielleicht etwas ausgefallenen und unklaren Sekte, aus Amerika importiert, und er hing nur über der Türe, weil sich Archilochos, das Porträt unter dem Arm, bei Georgette vorgestellt hatte.

Vor neun Monaten. Draußen ein Maientag, große Sonnenflecke auf der Straße, schräge Strahlenbündel in der kleinen Wirtschaft, das goldene Radfahrertrikot Augustes noch einmal vergoldet, ebenso seine traurigen Rennfanrerbeine, die Haare flimmerndes Gewölk.

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