Justiz   ::   Дюрренматт Фридрих

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Ich schrieb einen Brief an den Kantonsrat, teilte ihm meinen Entschluß noch einmal mit. Die Sache war für mich erledigt. Den Brief in der Tasche verließ ich mein Zimmer in der Freiestraße, wie jeden Morgen, punkt neun, in der Absicht, mich gewohnheitsmäßig zuerst ins >Select<, später auf mein Studio (die Mansarde in der Spiegelgasse), noch später zum Quai zu begeben. In der Haustüre grüßte ich meine Vermieterin, blinzelte dann in der Sonne zum gelben Briefkasten neben dem Konsum hinüber, einige Schritte, eine Lächerlichkeit, doch da das Leben oft wie ein schlechter Romancier arbeitet, begegnete ich an diesem föhnigen, drückenden, für unsere Stadt so typischen Alltagsmorgen, wie gesagt, zwischen neun und zehn gleich nacheinander a) dem alten Knulpe, b) dem Architekten Friedli, c) dem Privatdetektiv Lienhard.

a) Der alte Knulpe: er erwischte mich beim Briefkasten. Ich wollte eben meinen Absagebrief einwerfen, als er mir zuvorkam, mit einem ganzen Bündel von Briefen, von denen er einen um den anderen sorgfältig einwarf. Der Alte war wie immer von seiner Frau begleitet. Professor Carl Knulpe war fast zwei Meter groß, ausgemergelt, schien nur aus Haut und Knochen zu bestehen, wie Prediger Simon Berger und Niklaus von der Flüe, doch ohne Bart, verwildert, schmutzig, trug sommers und winters eine Pelerine, dazu eine Baskenmütze. Seine Gattin war ebenso groß wie er, ebenso ausgemergelt, ebenso verwildert und schmutzig, trug auch jahraus, jahrein Pelerine und Baskenmütze, so daß viele sie gar nicht für seine Frau, sondern für seinen Zwillingsbruder hielten. Beide waren bedeutend in ihrem Fachgebiet, beide Soziologen. Doch so unzertrennlich sie auch im Leben zusammenhielten, wissenschaftlich waren sie Todfeinde, die sich publizistisch oft boshaft bekämpften, er war ein großer Liberaler (>Kapitalismus als geistiges Abenteuer<, Francke, 1938), sie eine leidenschaftliche Marxistin, bekannt unter dem Namen Moses Staehelin (>Marxistischer Humanismus des Diesseits<, Europa-Verlag, 1939), beide durch die politische Entwicklung gleich gezeichnet: Carl Knulpe erhielt kein Visum für die USA, Moses Staehelin keines für die UdSSR, er hatte sich scharf gegen die» instinktiven marxistischen Tendenzen «der Vereinigten Staaten geäußert, sie noch unbarmherziger über den» kleinbürgerlichen Verrat «der Sowjetunion. Hatte. Leider ist die Vergangenheitsform notwendig: vor zwei Wochen zermalmte ein Lastwagen des Abbruchgeschäfts Stürzeier die beiden, er wurde begraben, sie kremiert, eine testamentarische Verfügung, die das Begräbnis nicht unerheblich erschwerte.

«Grüß Gott«, machte ich mich bemerkbar, den Brief an Kohler noch in der Hand.

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