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Es ist schon lange von mir zur Erwägung anheimgegeben worden, ob nicht die Überzeugungen gefährlichere Feinde der Wahrheit sind als die Lügen (Menschliches, Allzumenschliches S. <331>) Dies Mal möchte ich die entscheidende Frage thun: besteht zwischen Lüge und Überzeugung überhaupt ein Gegensatz? — Alle Welt glaubt es; aber was glaubt nicht alle Welt! — Eine jede Überzeugung hat ihre Geschichte, ihre Vorformen, ihre Tentativen und Fehlgriffe: sie wird Überzeugung, nachdem sie es lange nicht ist, nachdem sie es noch länger kaum ist. Wie? könnte unter diesen Embryonal-Formen der Überzeugung nicht auch die Lüge sein? — Mitunter bedarf es bloss eines Personen-Wechsels: im Sohn wird Überzeugung, was im Vater noch Lüge war. — Ich nenne Lüge Etwas nicht sehn wollen, das man sieht, Etwas nicht so sehn wollen, wie man es sieht: ob die Lüge vor Zeugen oder ohne Zeugen statt hat, kommt nicht in Betracht. Die gewöhnlichste Lüge ist die, mit der man sich selbst belügt; das Belügen Andrer ist relativ der Ausnahmefall. — Nun ist dies Nicht-sehn-wollen, was man sieht, dies Nicht-so-sehn-wollen, wie man es sieht, beinahe die erste Bedingung für Alle, die Partei sind in irgend welchem Sinne: der Parteimensch wird mit Nothwendigkeit Lügner. Die deutsche Geschichtsschreibung zum Beispiel ist überzeugt, dass Rom der Despotismus war, dass die Germanen den Geist der Freiheit in die Welt gebracht haben: welcher Unterschied ist zwischen dieser Überzeugung und einer Lüge? Darf man sich noch darüber wundern, wenn, aus Instinkt, alle Parteien, auch die deutschen Historiker, die grossen Worte der Moral im Munde haben, — dass die Moral beinahe dadurch fortbesteht, dass der Parteimensch jeder Art jeden Augenblick sie nöthig hat? — »Dies ist unsre Überzeugung: wir bekennen sie vor aller Welt, wir leben und sterben für sie, — Respekt vor Allem, was Überzeugungen hat!«— dergleichen habe ich sogar aus dem Mund von Antisemiten gehört. Im Gegentheil, meine Herrn! Ein Antisemit wird dadurch durchaus nicht anständiger, dass er aus Grundsatz lügt… Die Priester, die in solchen Dingen feiner sind und den Einwand sehr gut verstehn, der im Begriff einer Überzeugung, das heisst einer grundsätzlichen, weil zweckdienlichen Verlogenheit liegt, haben von den Juden her die Klugheit überkommen, an dieser Stelle den Begriff» Gott«,»Wille Gottes«,»Offenbarung Gottes «einzuschieben. Auch Kant, mit seinem kategorischen Imperativ, war auf dem gleichen Wege: seine Vernunft wurde hierin praktisch.
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