Der Wanderer und sein Schatten :: Ницше Фридрих
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Die Menschen sind ihren Gedankenbildern viel anhänglicher als ihren geliebtesten Geliebten: deshalb opfern sie sich für den Staat, die Kirche und auch für Gott — sofern er eben ihrErzeugnis, ihr Gedanke bleibt und nicht gar zu persönlich genommen wird. Im letzteren Falle hadern sie fast immer mit ihm: selbst dem Frömmsten entfuhr ja die bittere Rede» mein Gott, warum hast du mich verlassen!»
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Die weltliche Gerechtigkeit. — Es ist möglich, die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben — mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld jedermanns: und es ist schon ein Versuch in gleicher Richtung gemacht worden, gerade auf Grund der entgegengesetzten Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung jedermanns. Der Stifter des Christentums war es, der die weltliche Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen wollte. Denn er verstand alle Schuld als» Sünde«, das heißt als Frevel an Gott und nicht als Frevel an der Welt; andererseits hielt er jedermann im größten Maßstabe und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihresgleichen sein: so urteilte seine Billigkeit. Alle Richter der weltlichen Gerechtigkeit waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurteilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit schien ihm heuchlerisch und pharisäerhaft. Überdies sah er auf die Motive der Handlungen und nicht auf den Erfolg, und hielt für die Beurteilung der Motive nur einen einzigen für scharfsichtig genug: sich selber (oder wie er sich ausdrückte: Gott).
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Eine Affektation beim Abschiede. — Wer sich von einer Partei oder Religion trennen will, meint, es sei nun für ihn nötig, sie zu widerlegen. Aber dies ist sehr hochmütig gedacht. Nötig ist nur, daß er klar einsieht, welche Klammern ihn bisher an diese Partei oder Religion anhielten und daß sie es nicht mehr tun, was für Absichten ihn dahin getrieben haben und daß sie jetzt anderswohin treiben. Wir sind nicht aus strengen Erkenntnisgründen auf die Seite jener Partei oder Religion getreten: wir sollen dies, wenn wir von ihr scheiden, auch nicht affektieren.
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Heiland und Arzt. — Der Stifter des Christentums war, wie es sich von selber versteht, als Kenner der menschlichen Seele nicht ohne die größten Mängel und Voreingenommenheiten und als Arzt der Seele dem so anrüchigen und laienhaften Glauben an eine Universalmedizin ergeben. Er gleicht in seiner Methode mitunter jenem Zahnarzte, der jeden Schmerz durch Ausreißen des Zahnes heilen will; so zum Beispiel, indem er gegen die Sinnlichkeit mit dem Ratschlage ankämpft:»Wenn dich dein Auge ärgert, so reiße es aus.
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